Ein Gastbeitrag von Philipp Eichstädt, se·g architekten, Berlin
Mit dem Schlagwort „KI“ verbindet sich die Mutmaßung, dass sich unsere Arbeitswelt als Planer* und Architekten* fundamental transformieren wird. Ist das wirklich so? Kann man das menschliche Zusammenwirken zur Errichtung eines Bauwerks auch anders herstellen? Und wenn ja was genau wird sich ändern? Auszug aus einem Reisebericht.
Unser Selbstverständnis als Architekt*innen
Im Grunde verstehen wir Architekten* unser Tun entsprechend Vitruv als die „Mutter aller Künste“. Und als wahre Vertreter dieses alten Bundes sind wir überzeugt, dass sich alles, was es zur Gestaltung eines Ortes oder Gebäudes zu sagen gibt, mit Stift auf Papier kommunizieren lässt. Was es braucht, ist handwerkliche Übung, etwas Erfahrung und eine ordentliche Portion Selbstbewusstsein – sowie idealerweise ein paar Mitarbeiter*, die das Ganze anschließend in die gebotene Form bringen.
Wir planen Lebensräume. Wir übersetzen das, was unseren Lebensräumen fehlt in Visionen einer baubaren Zukunft. Wie sollte eine künstliche Intelligenz in der Lage sein, diese schöpferische Fähigkeit – oder „Mutter aller Künste“ – reproduzieren zu können?
Dies ist Teil 1 des Gastbeitrags von Philipp Eichstädt, Teil 2 finden Sie hier.
Unser Alltag als Architekten*
Zeitgleich stöhnen wir Architekten* unter der unendlichen Vielzahl an Regeln, Vorgaben und Kausalitäten mit denen jedes Maß und jedes Element einer Planung heutzutage verbunden ist. Es ist unbegreiflich, warum die besagten Mitarbeiter* stets so lange brauchen, um die doch eigentlich klare Skizze in einen einfachen Satz Pläne zu übersetzen.
Wie immer produziert das Team bei der Arbeit mehr Fragen als Ergebnisse – und die schlimmsten Fehler schleichen sich dort ein, wo sie meinen das Ergebnis zu kennen, ohne die Frage verstanden zu haben. Mitunter kommt man tatsächlich ins Grübeln, wieso noch niemand ein brauchbares Werkzeug zur ganzheitlichen Erfassung und Wiedergabe all dieser miteinander in Abhängigkeit stehenden Anforderungen erschaffen hat.
Zwar postuliert die Marketing-Abteilung fortwährend, dass unser Büro mit den neuesten digitalen Planungswerkzeugen arbeitet, insgeheim wissen wir Älteren und Erfahreneren aber, dass hier ein großes Naturgesetz am Wirken ist: Es gibt keine allumfassende technische Lösung, weil zum Planen der menschliche Geist eben doch unverzichtbar ist.
Also produzieren wir weiter Grundriss, Ansicht, Schnitt – ersetzen Papier mit PDF – und empfinden tiefe Genugtuung, wenn aus der BIM-Abteilung erfolgreiche Kollisionsprüfungen gemeldet werden.
Echt jetzt?
Künstliche Intelligenz: Neue Werkzeuge und neue Dienstleister
Die Summe an neuen Startups, Ansätzen und Lösungen die sich im Internet für Immobilienentwickler*, Planer* und Architekten* beziehen lassen, ist enorm. Zum weiteren Verständnis zwei Einordnungen vorweg:
a) Die Definition von KI
Selbstverständlich bestehen zwischen ChatGPT und einem Taschenrechner qualitative Unterschiede, dennoch handelt es sich in beiden Fällen um eine Form von künstlicher Intelligenz. Über die Unterschiede von KI ist viel geschrieben worden.
Wir haben uns auf die Suche nach den besten neuen Werkzeugen für Planer und Entwickler gemacht, auch wenn es sich dabei mitunter um Lösungen handelt, die im Kern aus Algorithmen der parametrischen Planung bestehen – einer Technologie, die seit weit über 20 Jahren existiert, jetzt aber als Dienstleistung via Internet der Breite verfügbar gemacht wird.
b) KI als Werbeversprechen
Unter dem Schlagwort „Künstliche Intelligenz“ finden sich im Netz grob vereinfacht drei verschiedene Gruppen:
- Dienstleister* die vorgeben, für ihr Angebot ganz allgemein die neueste und beste KI zur Anwendung zu bringen, ohne jedoch genau darzustellen, welche Technik sie verwenden und welche Ergebnisse sie damit erzielen.
- Anbieter*, die für eine konkrete Aufgabenstellung eine technische Lösung entwickelt haben. Da diese aber (noch) nicht die erforderliche Produktreife besitzen, werden sie eher als Dienstleistung angeboten.
- Produkte, die für eine konkrete Aufgabenstellung eine technische Lösung anbieten und die im Netz frei verfügbar genutzt und getestet werden können.
Wir besprechen im Folgenden prinzipiell das Angebot der letzten beiden Gruppen.
Wie am besten anfangen?
Der Einstieg und die ersten Schritte in der neuen digitalen Produktwelt sind schnell gemacht. Die meisten Oberflächen sind – wie für Angebote im Internet allgemein üblich – extrem zugänglich: Cookies akzeptiert, Zugangsdaten angefordert, kostenfreie Testversion gestartet – und mit wenigen Klicks befindet man sich ich in einer Welt, die für das ungeübte Auge wie die Planung von morgen aussieht.
Merkwürdigerweise erscheint auf dem Bildschirm das Ergebnis der Arbeit deutlich bevor man sich wirklich orientiert oder gar irgendeinen planerischen Willen formuliert hat. Zudem fehlen auf ebendiesem Bildschirm auch die übliche Vielzahl an Knöpfen, mit denen die Nutzer* das Ergebnis so manipulieren können, dass es den eigenen Vorstellungen entspricht.
Viele Ergebnisse lassen sich mit dem Tablet auf dem Sofa generieren. Schnell wird jedoch klar: Die neuen Werkzeuge erstellen keine Planung, sondern bestenfalls kleine, isolierte Bestandteile einer Planung.
Die Hüter* der wahren Erkenntnis tauschen wissende Blicke untereinander: War doch klar, dass das nichts werden kann!
Die Kultur von Stift und Papier
Mit jeder Suchanfrage findet man mehrere neue Anbieter. Für jede Aufgabenstellung finden sich diverse Lösungen. Je mehr man forscht, umso größer wird das Arsenal an möglichen, neuen Werkzeugen.
Schon vor Abschluss einer ersten brauchbaren Bestandsaufnahme stellt sich die Frage: Wer soll das alles testen, evaluieren und in bestehende Arbeitsabläufe einbinden? Oder sollte man das Ganze lieber doch noch zwei, drei Jahre reifen lassen, bevor man Zeit in dieses aufwändige Thema investiert (und Wichtigeres liegen lässt).
Unsere Branche hat sich in den vergangenen 20 Jahren in etwa so weit digitalisiert wie der Lautstärkeregler des Autoradios – statt einem Drehknopf gibt es jetzt auch berührungsempfindliche Kunststoffeinlagen, auf denen man rechts und links Wischen kann.
Was ich sagen will: Wirklich nennenswerte Unterschiede kann ich zwischen den getuschten Plänen meines Großvaters und unseren BIM-Planwerken nicht erkennen. Viele der einfachsten Grundlagen und Handgriffe wiederholen wir nach wie vor manuell von Projekt zu Projekt. Alle Software, die wir zur Anwendung bringen, dient dazu unsere planerische Aussage „zu Papier“ bringen zu können – auch wenn die Pläne, Tabellen und Texte heutzutage oftmals als PDF-Daten übergeben werden.
Fazit
Dem oben beschriebenen Status Quo der Architekturbranche steht eine erstaunliche Vielzahl von Startups und Softwareentwicklern gegenüber. Die einen haben keine Zeit, sich über die Möglichkeiten der Digitalisierung nachhaltig zu informieren. Die anderen mutmaßen, was Ihre Zielgruppe möglicherweise gebrauchen könnten und bleiben größtenteils in Forschungs- und vereinzelten Leuchtturmprojekten verhaftet.
Ein wirkliches Zusammenwirken dieser beiden Gruppen kann nur gelingen, wenn wir Planer* die Bereitschaft finden, die neuen Ansätze auszuprobieren und zu deren Verbesserung aktiv beizutragen.
Digitalisierung bedeutet Ökonomisierung, also die Erbringung einer vergleichbaren Leistung mit geringerem Aufwand. Diese Ökonomisierung wird unweigerlich eine Transformation unserer Arbeitsumwelt mit sich bringen. Auch wenn dieser Wandel die Entscheider* von heute sicherlich nicht im vollen Umfang betreffen dürfte, bin ich überzeugt, dass wir es den folgenden Generationen schulden, hier das Feld zu bereiten.
Also haben wir uns an den Versuch gewagt, dieses neue Terrain mal in Länge, Breite und Höhe zu kartographieren. Über unsere Ergebnisse werden wir in den folgenden Artikeln berichten.
Dies ist Teil 1 des Gastbeitrags von Philipp Eichstädt, Teil 2 finden Sie hier.
Über den Autor
Philipp Eichstädt, Jahrgang 1971, ist als selbständiger Architekt in Berlin tätig und leitet mit seinem Büro se·g architekten schwerpunktmäßig große Generalplanungsprojekte der öffentlichen Hand.
Die Erarbeitung von umfänglichen und komplexen Planwerken führt immer schon zu punktuellen und aufgabenspezifischen Programmierungen – und bildet somit die Grundlage für die Suche nach allgemeingültigen und wiederverwendbaren Lösungen. Das Erscheinen von ChatGPT hat in diesem Kontext 2023 den notwendigen Impuls gegeben, mal abseits der etablierten Anbieter von Planungssoftware nach neuen Ideen und Lösungen zu suchen.
* Gender*n
Die in diesem Artikel verwendeten Personenbezeichnungen* beziehen sich immer gleichermaßen auf weibliche und männliche Personen. Auf Doppelnennungen und gegenderte Bezeichnungen wird zugunsten einer besseren Lesbarkeit verzichtet und stattdessen mit einem* gekennzeichnet.
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